29.03.2022

Prototyping für Medizinprodukte: Schlüssel für Zulassung & Markterfolg

Wer Prototyping frühzeitig in der Entwicklung von Medizinprodukten einsetzt, erfüllt nicht nur die von der DIN EN 62366 geforderte Formative Evaluation. Mit Prototyping vermeidet ihr kostenintensive Korrekturen und richtet Usability und Bediensicherheit Eures Produkts optimal auf eure Zielgruppen aus. Wann kommt Prototyping im Medical-Bereich idealerweise zum Einsatz? Welche unterschiedlichen Prototyping-Methoden gibt es? Was solltet ihr insbesondere beim Prototyping für Medizinprodukte berücksichtigen? Das erfahrt ihr in unserem Artikel.

Was ist ein Prototyp?

Ein Prototyp ist ein vereinfachtes, aber häufig bereits funktionsfähiges Modell eines geplanten Produkts oder Services. Mit Prototypen sind Produktkonzepte kostengünstig und schnell testbar. So könnt ihr die Gebrauchstauglichkeit und Bediensicherheit eurer Medizinprodukte schon früh in der Entwicklung überprüfen und euer Produkt mit dem gewonnenen Feedback iterativ weiterentwickeln und optimieren.

Was bringt Prototyping?

Medical Prototyping hilft, das Produktkonzept Schritt für Schritt auf die Anforderungen im medizinischen Umfeld optimal auszurichten. Dadurch gestaltet ihr die Bedienung eurer Produkte effizienter und sicherer. Gleichzeitig reduziert ihr durch den Einsatz von Prototyping das Risiko von Fehlinvestitionen.

Sichere Bedienung mit Medical Prototyping

Insbesondere im anspruchsvollen Entwicklungsumfeld der Medizintechnik empfehlen wir bei der Produkt- und Serviceentwicklung Prototyping einzusetzen. Denn in der Medizintechnik haben Bedienfehler oft gravierende und zum Teil lebensbedrohliche Folgen. Bei der Produktgestaltung müssen durch den besonderen Nutzungskontext viele verschiedene Anforderungen berücksichtigt werden: So bedienen häufig Laien (zum Beispiel pflegende Angehörige oder Patienten selbst) und ausgebildetes Fachpersonal medizinische Anwendungen.

Bei unserem Projekt mit den Test-Experten von QIAGEN (mittlerweile DIALUNOX) waren sowohl der Nutzungskontext als auch die Zielgruppen sehr heterogen. Mit dem Schnelltestreader von QIAGEN lassen sich Flüssigkeiten auf unterschiedliche Eigenschaften testen – beispielsweise von einem Laboranten im Labor, aber auch von einem Polizisten auf Streife. Das erforderte ein stringentes Bedienkonzept, das auch Nutzende ohne medizinische Kenntnisse sicher und effizient durch den Testprozess führt.

Medizingerät

Effiziente Interaktion

Die Nutzung von Medizinprodukten findet oft in kritischen Situationen unter Zeitdruck statt. Auch die Einsatzorte der Medizintechnik im OP-Saal oder auf der Intensivstation bringen besondere Anforderungen bezüglich der Lichtverhältnisse oder Geräuschkulisse mit sich. In unserem Projekt HoloMed entstand eine Augmented-Reality-Anwendung, die Chirurg:innen bei Gehirnoperationen unterstützt. Um die Ergebnisse zu testen, haben wir in einem Hackathon mit dem gesamten Team aus Usability-Experten, Designern und Entwicklern geprototypt. So konnten wir schnell sehen, was funktioniert und was nicht, und die Anwendung selbst ausprobieren. Gemeinsam mit unseren Partnern entwickelten wir einen funktionsfähigen Prototyp. Ob dieser Prototyp den hohen Anforderungen des medizinischen Umfelds gerecht wird, überprüften wir in zwei Testschleifen unter echten Bedingungen im OP-Saal:

Sind die Arbeitsschritte für die Neurochirurgen klar verständlich dargestellt? Sind die Hologramme der AR-Anwendung im hellen Licht eines OP-Saals gut zu erkennen? Überblenden die Hologramme andere Geräte? Sind die Hologramme sinnvoll platziert, sodass eine ergonomische Haltung des Nutzenden sichergestellt ist? Ist die Anwendung übersichtlich und gleichzeitig so unaufdringlich, dass der Fokus auf den Patienten nicht verloren geht? Mithilfe der Tests-Erkenntnisse entstanden verfeinerte Konzepte und Designs, die sich perfekt in bestehende Arbeitsabläufe und die mentalen Modelle der Ärzt:innen integrieren und dadurch neurochirurgische OPs sicherer und effizienter machen.

Arzt im OP

Medizinproduktentwicklung mit Prototyping

Medical Prototyping ist ein essenzieller Teil vor allem in den frühen Phasen der Innovations- und Produktentwicklung:

  • Ideation: In dieser Phase helfen Prototypen, Ideen zu visualisieren und greifbar zu machen. In der Medizintechnik sind Nutzergruppen durch Zweckbestimmungen sehr eng definiert und Lösungen müssen sehr genau in bestehende klinische Abläufe passen. Das macht es umso wichtiger, den Problemraum vollständig zu verstehen und schnelle Erkenntnisse zur Machbarkeit oder Tragfähigkeit von Produktideen zu gewinnen.
  • Gestalten: Prototypen unterstützen euch dabei, Ideen, Konzepte und Design erfahrbar zu machen und weiterzuentwickeln. Meist bilden in dieser Phase die Prototypen bereits die Grundidee des User Interfaces ab, welche dann immer weiterentwickelt wird.
  • Iteratives Testen: Zielgruppen bewerten anhand der Prototypen die konzipierten Lösungen. Ihr Feedback trägt zur fortlaufenden Verbesserung eures Prototyps mit wachsendem Detailgrad (Fidelity) bei. Auch die DIN EN 62366 und FDA fordern eine entwicklungsbegleitende formative Evaluation der Medizintechnik, idealerweise mit repräsentativen Nutzenden. Die Validierung der Gebrauchstauglichkeit mit Medical Prototyping ist der Goldstandard für diese Anforderung und muss entsprechend in die Dokumentation (Usability Engineering File) aufgenommen werden.

Die summative Evaluation wird hingegen im Normalfall mit dem finalen Produkt durchgeführt.

Medizinproduktentwicklung

Methoden im Prototyping

  • Klick-Dummy: Für die Interaktions- und Design-Tests unserer Medizinkunden erstellen wir digitale interaktive Prototypen in Tools wie Figma, Axure oder Adobe XD. Nutzende bearbeiten damit typische Aufgaben und interagieren so direkt mit dem Produktkonzept. Auf Basis des Feedbacks passen Gestalter:innen die Konzepte und das Design anschließend unkompliziert an.
  • Haptische Prototypen eignen sich gut, um Produkthandling und Formfaktor überprüfen zu können: Liegt der Insulin Pen gut in der Hand? Kommen die Nutzenden trotz krankheitsbedingter motorischer Einschränkungen mit dem Tablettenspender zurecht? Ist der fest verbaute Wärmestrahler gut ablesbar und bedienbar? Dank der Herstellung mittels additiver Fertigung lassen sich haptische Prototypen schnell und kostengünstig umsetzen.
  • Natürlichsprachliche Interfaces können bspw. mit Wizard-of-Oz-Prototypen erfahrbar gemacht werden. Dabei simuliert der Testleiter bzw. der Moderator die Systemreaktionen, in dem Fall die Sprachausgabe.
  • Rollenspiele sind darüber hinaus sehr gut geeignet, um Services zu überprüfen. Durch ein Rollenspiel erhalten die zuschauenden Teilnehmer eine realistische Einsicht in die Nutzererfahrung einer Dienstleistung.

Low-Fidelity vs. High-Fidelity

Prototypen unterscheiden sich nach Detail- und Realismusgrad. Die so genannte „Fidelity“ beeinflusst die visuelle Ausgestaltung, Interaktivität und den Inhalt der Prototypen. Dabei gilt: Je weniger Energie in die Herstellung geflossen ist, desto einfacher ist es (auch aus psychologischer Sicht), die Ideen auch wieder zu verwerfen.

Prototype

Low-Fidelity-Prototypen

  • Einsatz in frühen Entwicklungsphasen
  • Testet, ob Produktidee oder -Konzept die Anforderungen erfüllt
  • Geringer Realismusgrad
  • Visuelle Ausgestaltung entspricht nicht dem späteren Design des Produkts
  • Interaktivität ist begrenzt bzw. muss durch die Testleitung nachgeahmt (z.B. Wizard of Oz-Methode) oder erklärt werden
  • Beispiele: Papierprototypen, simple HTML-Klick-Dummies oder digitale Wireframes

High-Fidelity-Prototypen

  • Einsatz in späteren Entwicklungsphasen
  • Eignen sich, um Konzept und Design unter realitätsnahen Bedingungen zu testen
  • Fokus liegt auf Detailfragen wie Design und Animationen
  • Funktionale Prototypen
  • Visuelle Ausgestaltung nah am späteren Produktdesign
  • Nutzende können damit zuvor definierte Aufgaben eigenständig erledigen
  • Interaktivität ist für die vorher definierten Aufgaben gegeben
  • Inhalt besteht aus realistischen Daten und Texten
  • Ergeben die High-Fidelity-Studien keinen oder nur wenig Überarbeitungsbedarf, so bilden diese Tests eine ideale Grundlage für die summative Evaluation im Rahmen des Usability Engineering File (UEF)

6 Tipps für Medical Prototyping

  • Realistische Daten: Die Richtigkeit der beispielhaften Inhalte (z. B. Texte, Diagnosen, Vitalwerte, Aufnahmen) sind besonders bei medizinischen Zielgruppen (Ärzt:innen, Apotheker:innen, medizinisches Fachpersonal) besonders wichtig. Wenn der Medical Prototyp inhaltliche Fehler enthält, fällt es ihnen oft schwer, sich auf das „Design-Feedback“ zu konzentrieren. Auch „Lorem Ipsum“ sollte nach Möglichkeit vermieden werden.
  • Bediensicherheit: Bei der Validierung der Gebrauchstauglichkeit steht die Sicherheit im Umgang mit dem Produkt im Fokus. Die DIN EN 62366 fordert, dass alle festgelegten Benutzungsszenarien sicherheitsbezogen bewertet sind. Daher ist eine regelmäßige Abstimmung mit dem Risiko-Management vor und nach den Tests besonders wichtig.
  • Moderationserfahrung: Erfahrene User-Research-Moderator:innen sind besonders im Medizinkontext enorm wichtig. Diese stellen sicher, dass die gesetzlichen Anforderungen erfüllt sind. Es braucht viel Expertise, um aus den Studien mit Nutzenden das Maximum an Erkenntnissen herauszuholen, um darauf aufbauend eure Produkte zu optimieren.
  • Präzise Aufgabenstellung: Besonders im ärztlichen Kontext ist eine gut formulierte Aufgabenstellung elementar wichtig. Eine gute Aufgabe ist so präzise formuliert, dass sie keine Rückfragen provoziert, aber gleichzeitig keinen Lösungsweg (z.B. durch Nennung von Begriffen, die direkt im Display zu sehen sind) vorwegnimmt. Außerdem sollte sie sich an einem realistischen Nutzungsszenario orientieren.
  • Realistisches Test-Setting: Viele Medizinprodukte werden vor allem im Krankenhaus zusammen mit anderen Produkten verwendet werden. D.h. viele Geräte konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Nutzenden. Das betrifft vor allem das Alarm-Management der jeweiligen Geräte: wie vermeide ich Fehl- und für das Personal irrelevante Alarme? Wie kommuniziere ich die richtige Dringlichkeit meiner Alarme, um Stress beim Personal und Panik bei Patienten und Angehörigen zu vermeiden? Auch das muss beim Studiendesign berücksichtigt werden.
  • UEF-Dokumentation: Alle getestete Prototypenstände solltet ihr einzeln oder gesammelt im Evaluation Report dokumentieren. Je einheitlicher und strukturierter, desto besser können die Benannten Stellen euer Evaluationskonzept nachvollziehen. Entsprechende Templates helfen hier Zeit zu sparen und nichts zu vergessen.

Fazit

Medical Prototyping trägt wesentlich dazu bei, Herausforderungen vor und in der Entwicklung von Produkten und Services zu erkennen. Mit ihnen könnt ihr wertvolle Erkenntnisse sammeln, um Konzept und Design zu optimieren. Mit Prototypen testet ihr Funktionalität und Gebrauchstauglich eures Medizinprodukts bereits während der Entwicklung – bevor ihr mit der Implementierung startet. So stellt ihr sicher, dass Produkte und Services entstehen, die Nutzende in ihrem Nutzungskontext bestmöglich unterstützen. Ihr vermeidet Zeit- und kostenintensive Korrekturen und gestaltet die Entwicklung eurer Produkte schneller und effektiver. Wer am Anfang Geld und Zeit in Medical Prototyping investiert spart am Ende.

Die Autor:innen

Dominik Zenth

Seit 2015 entwickelt Dominik bei UID nutzerfreundliche und kreative Lösungen. Dabei profitieren vor allem Firmen aus dem Bereich Medical & Pharma vom Wissen des studierten Gesundheitswissenschaftlers und Physiotherapeuten. Als Spezialist für User Research und Konzeption von Health-Anwendungen versteht er die Bedürfnisse der Nutzenden und setzt sie in intuitiv bedienbare Produkte um.

Silja Donadel

Ob Content- oder Angebotserstellung – Silja vernetzt bei UID Marketing und Vertrieb. Die Literatur- und Sprachwissenschaftlerin ist immer auf der Suche nach spannenden Themen aus der UX-Welt, die unsere Kunden begeistern.

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