Augmented Reality: Zwischen Faszination und Herausforderung
CT- oder MRT-Bilder, die passgenau über den Körper der Patienten geblendet werden? Oder Hinweise, die Schritt für Schritt durch die Montage und Wartung von Maschinen führen? Egal, ob in Medizin, Industrie oder unserem Alltag, Augmented Reality kann unsere Arbeit und unser Leben effizienter, sicherer und faszinierender machen. Die erweiterte Realität bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Wie diese aussehen, verrät Michael Burmester.
Fit in der Begriffswelt rund um Augmented Reality? Falls nicht, fassen wir kurz die wichtigsten Begriffe zusammen. Paul Milgram führte schon 1994 den Begriff Mixed Reality (MR) als Oberbegriff ein. Darunter versteht er alle Misch- und Übergangsformen zwischen der reinen Realität und Virtualität – das Reality-Virtuality-Kontinuum. Virtual Reality (VR) ist das Gegenstück zur Realität. Hierbei wird der Nutzer zum Beispiel durch Head-Mounted Displays und Kopfhörer vollständig in eine künstlich generierte Welt versetzt.
Im Gegensatz dazu erweitert Augmented Reality (AR) die Realität des Nutzers durch virtuelle Inhalte wie Texte, 3D-Grafiken, Animationen und Videos. So kann beispielsweise auch in einer realen leeren Fabrikhalle eine virtuelle Produktionsmaschine erscheinen. Mit diesen virtuellen Objekten kann der Nutzer interagieren. Bei Augmented Virtuality (AV) wird der virtuelle Raum durch Einblendungen aus der Realität erweitert. Bei kollaborativer VR beispielsweise wird der Videostream von realen Personen in die virtuelle Umgebung eingeblendet.

Wie AR funktioniert
Augmented Reality erfordert immer eine Ein- und Ausgabetechnologie, die Realität mit weiteren Objekten oder Inhalten anreichert. Es gibt zwei unterschiedliche Systeme:
Video See-Through
Die Realität wird beispielsweise mit einem Smartphone oder Tablet als Video aufgezeichnet und dann durch virtuelle Informationen oder Objekte erweitert.


Optical See-Through
Der Nutzer trägt ein Head-Mounted Display und sieht die Realität durch einen Halbspiegel. In diesen Spiegel werden virtuelle Objekte durch ein Display eingespiegelt.
Ein Beispiel ist die Microsoft HoloLens, die mit Tiefenkameras den Raum erfasst. Der Nutzer kann virtuelle Objekte im Raum platzieren. Mithilfe seines Blickes selektiert er Objekte und kann mit ihnen durch Sprachdialoge und Gesten interagieren.
AR boomt
Für AR gibt es viele Anwendungsfälle. Bereits Ende der 90er Jahre untersuchte UID im Forschungsprojekt ARVIKA, wie AR im industriellen Kontext eingesetzt werden kann. Dabei existierte schon ein sehr klares Bild, wie AR bei der Wartung, Diagnose und Schulung unterstützen und wie die entsprechenden Interaktionen aussehen können. Diese Szenarien unterscheiden sich nur wenig von heutigen Anwendungsbeispielen. Jedoch war die Technologie damals noch nicht so weit entwickelt, um Nutzungsszenarien außerhalb kontrollierter Settings zu realisieren. Heute ist funktionierende AR keine Zukunftsmusik mehr.
Die Technologie wird in vielen Bereichen, wie im Entertainment, in der Entwicklung, Planung und Konstruktion oder im Verkauf eingesetzt: Ikea-Kunden veranschaulichen sich beispielsweise per App, wie Möbel in ihrem Zuhause aussehen. AR macht vor allem eins: Spaß. Sie begeistert, stimuliert, sorgt wegen ihres momentanen Neuigkeitscharakters für das besondere UX-Erlebnis und löst Emotionen sowie positive Assoziationen zu Produkten oder Marken aus. Neben dem Spaßfaktor bietet die Technologie aber auch pragmatische Vorteile.

Informationen nach Bedarf
Die Vorteile von AR liegen auf der Hand: Visualisierungen unterstützen die Vorstellungskraft. Zudem bekommt der Nutzer alle relevanten Infos genau dort eingeblendet, wo er sie benötigt. In dem Forschungsprojekt HoloMed entwickelt UID eine AR-Anwendung, die bei Ventrikelpunktionen eingesetzt werden soll.
Bei dieser Operation führt der Chirurg einen Katheter in den Kopf des Patienten ein, um überflüssige Gehirnflüssigkeit abzuleiten. Eine optimale Lage des Katheters wird nur in zwei Dritteln der Fälle, meist nur mit mehreren Punktionsversuchen, erreicht. Mithilfe eines Head-Mounted Displays können virtuelle CT- oder MRT-Bilder über den realen Kopf des Patienten gelegt und Eingriffe so millimetergenau an der entsprechenden Stelle mit dem richtigen Winkel und der richtigen Tiefe durchgeführt werden. Der Mehrwert ist groß: mehr Sicherheit und Präzision.

Herausforderungen und Chancen
Seit ARVIKA ist Augmented Reality technisch enorm gereift und bietet nun ernstzunehmende Lösungen an. Wie so oft liegen die wichtigen Herausforderungen jedoch in den Details der Gestaltung und Handhabung. Hier einige Beispiele:
Intuitive Interaktionslösungen
Bei AR fehlen derzeit weitgehend gute Interaktionslösungen – so das Ergebnis des Projektes 3D-GUIde, das im Förderschwerpunkt Mittelstand-Digital des BMWi gefördert wird. In diesem Projekt entwickelt die Hochschule der Medien Stuttgart (HdM) mit Partnern auf Usability geprüfte 3D-Interaction-Patterns. Damit sind Entwurfsmuster gemeint, nach deren Beschreibungen intuitiv nutzbare Interaktionen gestaltet werden können. Gegenstand der Untersuchung sind zum Beispiel „Points of Interest“(POI).
Sie zeigen an, wo virtuelle Zusatzinfos zu realen Objekten und damit Interaktionsmöglichkeiten vorhanden sind.In einem Autohaus kann ein Interessent so sein Wunschauto per Tablet betrachten und zusätzliche Infos zum Motor, zu den Scheiben und vielem mehr erhalten. Es ist erstaunlich, wie viele Herausforderungen bei einem solch simpel erscheinenden AR-Objekt zu bewältigen sind. Mit welchem Objekt in einer Szene ist der POI verbunden? Was passiert, wenn mehrere POI im Raum vorhanden sind und sich überlagern? Woher weiß man, wo POI sind, wenn diese gerade nicht im Display zu sehen sind, weil man nur einen Ausschnitt sieht?

Einschränkungen in der Nutzung
Mit der HoloLens etwa interagiert der Nutzer im Wesentlichen per Gesten- und Sprachsteuerung. Die Gestensteuerung ist reduziert auf zwei Handbewegungen, die eine Aktion auslösen können. An weiteren intuitiven Interaktionsformen arbeitet aktuell nicht nur Microsoft. Ein weiteres Manko ist zudem der Tragekomfort der schweren, unbequemen Head-Mounted Displays. Ein mehrstündiger, dauerhafter Einsatz ist derzeit noch schwierig.
Tracking und Hygiene
Wenn es um Menschenleben geht, wie bei HoloMed, müssen sich die reale und virtuelle Welt höchst präzise überlagern. Es ist ein sehr leistungsfähiges Trackingsystem erforderlich, um die Position im Raum zu erfassen und die virtuelle und reale Welt exakt aufeinander abzustimmen. Eine weitere Herausforderung im Medical-Bereich ist die Hygiene. Wie können die Hygiene-Anforderungen im OP-Saal erfüllt werden? Eine Dampfreinigung nach Vorschrift würde die Geräte schnell ruinieren.
Wirkung auf Außenstehende
Wie wirkt Augmented Reality auf Außenstehende? Mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit die HdM. Bewegungen oder Sprachsteuerungen, die der Nutzer ausführt, sind für andere anwesende Personen nicht unbedingt nachvollziehbar und können befremdlich oder störend sein – auch das kann eine Herausforderung von AR sein.
Fazit
AR-Technologie bringt ein großes Spannungsfeld mit sich. Einerseits entstehen effektive und faszinierende Projekte. Andererseits gibt es einige Probleme zu beachten, die bei der Optimierung der Nutzung noch viel Detailarbeit verlangen. Außerdem sollte AR nicht nur ein Nice-to-have sein, sondern muss immer einen Mehrwert bieten. Fest steht: AR erlebt einen ähnlichen Hype wie das iPhone nach seinem Erscheinen – es bleibt also spannend, inwieweit sie in Zukunft unser Leben bestimmt.

Der Autor
Prof. Dr. Michael Burmester ist Principal Scientific Advisor bei UID. Von 2002 bis Dezember 2010 war er Berater Research and Innovation bei UID. Seit 2002 ist Dr. Michael Burmester Professor für Ergonomie und Usability im Studiengang Informationsdesign an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart. Er forscht zu Methoden des Usability Engineering und der User Experience sowie zu den Themenfeldern Human-Robot Interaction, interaktive Informationsgrafiken und Informationsunterstützung für Passagiere. Zudem leitet er seit 2005 den Forschungsschwerpunkt User Experience Research am Institute of Information Design Research (IIDR) der HdM.
Weitere Infos
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